[Kolumne] Noise Music – Von den Anfängen bis zur Gegenwart: Historischer Hintergrund, berühmte Schallplatten und Änderungen in der Ausrüstung
Column de Industrial Noise
Lärm = Ästhetik: Klänge, die als hart für das Ohr gelten, in „Vergnügen“ und „Kunst“ umwandeln.
| Text: mmr | Thema: Rebellion und Zerstörung – eine Herausforderung für die bestehende Musik und Gesellschaftsordnung. |
„Lärm“ ist nicht einfach „Lärm“, sondern bezieht sich auf ein Ausdrucksfeld, das von etablierten musikalischen Redewendungen (Melodie, Harmonie, Rhythmus) abweicht und den Klang selbst, die Textur, die physische Wirkung und die Hörstimulation betont. Entstanden aus einer Kombination künstlerischer, technologischer und sozialer Hintergründe, hat es sich seit über 100 Jahren kontinuierlich verändert.
1) Pionier (1910er–1940er): Futurismus und Tonbandexperimente – Konzeptualisierung von „Lärm“
Historischer Hintergrund
Eine Zeit, in der Industrialisierung und Urbanisierung den Lärm der Menschenmassen und der Maschinen in der Stadt alltäglich machten. Der „ästhetische Sinn“ für Klang erweiterte sich, und andere Klänge als traditionelle Musikinstrumente begannen, in die Kunst integriert zu werden.
Wichtige Ereignisse/Personen
- Im Jahr 1913 veröffentlichte der italienische Avantgarde-Künstler Luigi Russolo „Die Kunst der Geräusche“.
Repräsentative Werke
- Live-Aufnahme von Russolos „Noise Machine“.
Ausrüstung/Technologie
- Demonstrationen mit mechanischen und Umgebungsgeräuschen.
2) Klebeband und Beton (1940er–1960er Jahre): Bildung der technologischen Grundlagen
Historischer Hintergrund
Nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte die Entwicklung von Magnetbändern und elektroakustischen Geräten das Komponieren von Musik mit „Aufnahmen selbst“ als Material (Musique Concrète).
Wichtige Ereignisse/Personen
- Musique Concrète (1948-) von Pierre Schaeffer.
Repräsentative Werke
- Werke von Pierre Henry und Tod Dockstader.
Ausrüstung/Technologie
- Bandbearbeitung (Rückwärtsrotation, Looping, Schneiden/Spleißen).
3) Abweichung von Rock und Proto-Lärm (1960er–1970er Jahre)
Historischer Hintergrund
Rock wird experimenteller und Lärm wird in den Rockkontext integriert.
Repräsentative Werke
Ausrüstung/Technologie
- Gitarren-Feedback, Effektgeräte und einfache Aufnahmegeräte.
4) Industrie- und frühe Lärmszene (Ende der 1970er – 1980er Jahre)
Historischer Hintergrund
Aus einer Gegenreaktion gegen kommerzielle Musik entstand eine unabhängige Noise-Szene.
Wichtige Ereignisse/Personen
- Throbbing Gristle etabliert das „industrielle“ Konzept.
Repräsentative Werke
- Frühe Veröffentlichungen von Kollaps (Einstürzende Neubauten), Throbbing Gristle.
Ausrüstung/Technologie
- Industrielle Schlaginstrumente, Metallklänge, einfache Synthesizer.
5) Leistungselektronik und japanischer Lärm (1980er Jahre)
Historischer Hintergrund
Kassettenkultur und DIY-Geist bildeten ein internationales Noise-Netzwerk.
Wichtige Ereignisse/Personen
Repräsentative Werke
- Merzbows „Pulse Demon“-bezogene Werke, Whitehouses frühe Ausgabe.
Ausrüstung/Technologie
- Zerstörerische Verstärker, Radiogeräusche, Verzerrungspedale und Kassettenaufnahmen.
6) Diversifikation und Crossover (1990er–2000er)
Historischer Hintergrund
Noise überschneidet sich mit Rock, Metal, Post-Rock und Electronica.
Repräsentative Werke/Trends
- Langeweile, Lightning Bolt, Sonic Youth usw.
Ausrüstung/Technologie
- DAW, digitale Effekte, Sampler, Granularsynthese.
7) Modern (2010er–heute): Software und Module
Historischer Hintergrund
Diversifizierung durch modulares Synthesizer-Revival und Laptop-Akustik.
Repräsentative Trends
- Verbindung mit Eurorack-Rauschen, Live-Coding und Sound Art.
Ausrüstung/Technologie
- Modular (Eurorack), Max/MSP, SuperCollider, Circuit Bending.
Zusammenfassung der Ausstattungsänderungen
- Anfänglich: Geräuschmaschine, Umgebungsgeräusche
- Bandperiode: Magnetbandbearbeitung
- Analogperiode: Synthesizer, Gitarre + Effekte
- Kassettenzeitraum: DIY-Lärm, Kassettenverteilung
- Digitaler Zeitraum: DAW, Softwareverarbeitung
- Modern: Eurorack, Live-Codierung, Circuit Bending
Repräsentative Meisterwerkliste
- Luigi Russolo – The Art of Noises (1913, Theorie/Performance)
- Pierre Schaeffer – Musique Concrète Werke
- Lou Reed – Metal Machine Music (1975)
- Throbbing Gristle – frühe Werke
- Einstürzende Neubauten — Kollaps
- Merzbow – Pulse Demon und andere
- Whitehouse – frühe Werke
- Langeweile – Späte experimentelle Werke
- Lightning Bolt – Arbeit aus den frühen 2000er Jahren
Am Ende
Noise-Musik ist immer eine Herausforderung an die bestehende Ästhetik und ein Versuch, die Grenzen der Musik zu erweitern. Von Russolos mechanischen Klängen bis hin zu modularen Synthesizern besteht die Essenz aller Instrumente auch nach mehr als 100 Jahren Geschichte darin, „auf den Klang selbst zu hören“.