Prolog: Lärm als Umkehrung der Stille
Text: mmr|Thema: Erkundung der Philosophie und kulturhistorischen Bedeutung der von Masami Akita/Merzbow entwickelten Noise-Musik
Seit den 1980er Jahren hat die aus Japan stammende „Noise-Musik“ eine einzigartige Entwicklung in der Geschichte der Weltmusik eingeschlagen. Die Person, die weiterhin im Mittelpunkt steht, ist Masami Akita (Merzbow). Sein Sound ist gewalttätig und dennoch meditativ, destruktiv und dennoch organisch.
Es geht über den Rahmen von „Musik“ hinaus und sollte stattdessen als ein „klangphilosophisches Experiment“ betrachtet werden.
Der Name Merzbow stammt von Schulz’ Dada-artiger Collagearbeit „Merzbau“. Mit anderen Worten: Schon der Akt der Demontage vorhandener Strukturen und die Rekonstruktion der Fragmente ist sein schöpferisches Prinzip.
Akita ist seit über 40 Jahren aktiv, aber seine Philosophie war schon immer „die Politik des Zuhörens“. Lärm ist nicht nur „lärmender Ton“, sondern ein Gegenangriff von Geräuschen, die aus der Gesellschaftsordnung ausgeschlossen wurden.
Hintergrund: Japans avantgardistische Boden- und DIY-Kultur
Ende der 1970er-Jahre herrschte im Untergrund Tokios eine vielfältige Experimentierfreude. Der Kontext zeitgenössischer Musik von Yuji Takahashi und Toru Takemitsu, die Impulse von Punk/Free Jazz und die Happening-Praktiken der Kunstwelt überschneiden sich.
Während dieser Zeit studierte Akita Kunstgeschichte an einer Kunstuniversität und erforschte die Beziehung zwischen Körper und Klang.
Früher wurde Merzbow als „Aktionskunst“ entwickelt, die das Publikum und den Raum durch Live-Geräusche einbezog, ähnlich dem Action Painting.
Auch die Kassettenkultur (Kassetten-Underground) unterstützte seinen Ausdruck. Der DIY-Geist des Homerecording + Mailing-Netzwerks war ein Vorläufer dessen, was später zu einem internetähnlichen Phänomen werden sollte.
Ästhetik: Lärm = Freude am Abriss
Merzbows Ästhetik liegt in „Regeneration, nicht Zerstörung“.
Sein Lärm sprengt alle Genres, Strukturen, Harmonien und Emotionen, doch dann entsteht eine neue Ordnung.
Die unendliche Faltung der Klangpartikel eröffnet dem Hörer neue Sinneshorizonte.
„Lärm ist der Klang der Freiheit. Niemand kann ihn kontrollieren.“ ─ Masami Akita (Interview, 1994)
Merzbows kreativer Prozess wird oft mit der Struktur eines Ökosystems verglichen.
Analoges Rauschen (Feedback, Bandschleifen, wild laufende Effekte) und postdigitale glitchige Präzision greifen wie biologische Mutationen ineinander.
Es besteht eine „Resonanz zwischen Anorganischem und Organischem“.
Ausrüstung und Produktionsprozess: Akustisches „Ökosystem“
In den Anfängen lag der Schwerpunkt auf „physikalischem Rauschen“, das direkt mit Metallschrott, Verstärkern, Mikrofonen, Magnetbändern, Effektgeräten usw. verbunden war.
Mitte der 1990er Jahre änderte sich mit der Einführung von Macs und digitalen Geräten die Granularität und Steuerbarkeit des Klangs schlagartig.
Allerdings zielt Akita nicht auf Kontrolle ab, sondern verlagert sich stattdessen auf Experimente, um den „Punkt des Zusammenbruchs der Kontrolle“ zu finden.
Sein Studio ist ein eigener Organismus, in dem unzählige analoge Geräte und Patchkabel miteinander verflochten sind.
Merzbows „Sound“ ist eine Aufzeichnung des gegenseitigen Beeinflussungsprozesses zwischen Mensch und Maschine.
Sozialer Kontext: Tierschutz und Antikapitalismus
Seit den 2000er Jahren setzt sich Akita offen für Tierrechtsbewegungen und Veganismus ein und hat begonnen, diese Ideen in seine Musik zu integrieren.
In seinen repräsentativen Werken „Animal Liberation“ und „Ecoid“ definierte er Lärm als Kritik des Anthropozentrismus neu.
Mit anderen Worten: Lärm ist nicht nur ein Geräusch, sondern hat die Bedeutung einer ökologischen Widerstandsbewegung.
Merzbows Musik ist auch die Antithese zur kapitalistischen Warenform.
Obwohl es sich um das Gegenteil von „Musik, die sich verkauft“ handelt, entstand das Paradoxon, auf Festivals und in Museen auf der ganzen Welt große Anerkennung zu erhalten.
Internationaler Einfluss: Lärm zur globalen Sprache machen
Seit den 1990er Jahren wird Merzbow durch Untergrundnetzwerke auf der ganzen Welt mythologisiert.
Sein Einfluss erstreckte sich auf viele Künstler wie Wolf Eyes (USA), Prurient (USA) und Alva Noto (Deutschland).
Sein „japanischer Lärm“ wurde auch für westliche Kritiker zu einem wichtigen Bezugspunkt, da er die Koexistenz orientalischer Ruhe und Gewalt darstellt.
In den 2000er Jahren breitete sich die Lärmszene auf Indonesien, Russland und Südamerika aus.
Grundlage dafür ist die von Merzbow begründete Philosophie: „Mit Klang kann jeder die Welt zerstören.“
Aktuell: Geräusch nach AI
In den 2020er Jahren, in denen die Generierung von Musik durch KI alltäglich wird, gewinnt Merzbows Präsenz wieder an Bedeutung.
Sein Lärm wurde zum Symbol für „das nicht-algorithmische Chaos des menschlichen Bewusstseins“.
Je geordneter und schöner die generative Musik wird, desto mehr treten Merzbows „Chaos“ als Spuren des wirklichen Lebens hervor.
Die „Bewusstseinsverzerrung“, die mit KI-Rauschen nicht reproduziert werden kann, ist die menschliche Realität, die sein Klang ausstrahlt.
Es ist die letzte wilde Sache gegen die „Musik ohne Körper“ des 21. Jahrhunderts.
Fazit: Lärm ist ein Beweis für Leben
Merzbows Sound ist kein Genre mehr.
Es ist eine Erweiterung des Grundimpulses „Leben = Zuhören“.
Indem er sogar Stille in Lärm integriert, hat er die Schwingung der Existenz selbst im Extrembereich des Klangs aufgezeichnet.
„Lärm ist die Stimme des Lebens, die noch keinen Namen hat.“
Chronologie: Merzbows Flugbahn
Strukturdiagramm der Geräuscherzeugung
Position in der Geschichte der japanischen Avantgarde-Musik
Evolutionsprozess der Geräuschmusik
Empfohlene CD
Merzbow – Merzbird
Merzbows „Merzbird“ erschien 2004 beim amerikanischen Label Important Records.
Tracklist
1. Black Swan
2. Mandarin Duck
3. Emu
4. Victoria Crowned Pigeon
5. White Peafowl
6. Brown Pelican
Youtube
Referenzen/Materialien
„Lärm ist nicht das Grab der Musik, sondern die Wiedergeburt der Musik.“